Nina: „Ich heule, weil ich dankbar bin“
Aus unserer Beratung:
Nina, eine junge Frau, die bei einer Vergewaltigung schwanger wurde, hat in unserer Beratung in langem Ringen ein Ja zu ihrem Kind gefunden. Ihre Gefühle und Empfindungen hat sie für Sie aufgeschrieben.
Sie werden das jetzt lesen, ja. Aber es ist mir lieber, ich schreibe es selbst auf. Wie Sie wohl aussehen mögen? Sind Sie alt? Sind Sie jung? Wie leben Sie? Das sind so die Fragen, die mir im Kopf herumgehen und auf die ich keine Antwort bekommen werde.
Mit meinem Tablet sitze ich an der Nordsee und halte den ungewohnt scharfen Wind aus, das allgegenwärtige Salz in der Luft und registriere, dass er das Salz meiner Tränen trocknet, während ich versuche, etwas Kluges aufzuschreiben, nachzudenken. Extra habe ich mir heute morgen die Wimpern getuscht, damit so ein disziplinierter Mensch wie ich die Tränen zurückhält. Sonst verschmiert ja alles. Das war leider vergeblich. Jetzt, ohnehin nicht mit großer Schönheit versehen, muss ich ziemlich unansehnlich wirken. Zum Glück ist kein anderer Mensch hier. Das, finde ich, ist wohl die wahre Schönheit der Nordsee, dass man alleine ist, wenn man alleine sein will. Man kann heulen, wenn man will.
Wie sagt man also Danke? An Fremde? Wenn man noch gar nicht weiß, ob es Grund zu Dankbarkeit gibt, wenn die Angst einen mit gefletschten Zähnen permanent umkreist und einen ständig anfällt?! Und, was mache ich, wenn am Ende des Ziels auch Enttäuschung oder gar Bitterkeit steht? Was mache ich dann mit meinem Dank? Auch keine Antwort möglich. Das ist gut, eigentlich.
Dankbar bin ich auf jeden Fall Hendrike, bei der ich wohnen darf, bis … ja, wie lange eigentlich? Sie ist die Freundin meiner Beraterin und als sie mich am Bahnhof abholte, mochte ich sie sofort gut leiden, obwohl ich mir vorgenommen hatte, sie auf jeden Fall unangenehm zu finden. Ich wollte keine weiteren Personen mehr an mich ranlassen, weil ich weder das Mitleid ertrage noch die zwangsläufige Neugierde der Menschen. Aber Hendrike ist so handfest und zupackend, dass ich einfach brav hinter ihr her zum Auto lief, einfach geschehen ließ, was sie tat. Noch nie war ich an der Nordsee und bin nun schon mehr als 2 Wochen hier. Und ich weiß auch nicht, ob es gut ist, dass Hendrike die Freundin der Beraterin ist oder ob das am Ende doch schlecht für mich sein könnte. Da entstehen ja Abhängigkeiten, soviel ist klar.
Nichts ist mehr an seinem Platz
Meine Wahrnehmungen haben sich verschoben, seit der Vergewaltigung ist echt nichts mehr an seinem Platz, an dem es vorher war; so sehr ich mich auch bemühe, alles geradezurücken, wehre ich mich gleichzeitig gegen das Wieder-gerade-Rücken. Denn dann kommt zwangsläufig der Isarstrand und alles, was dort geschehen ist, wieder hoch. Eigentlich hatte ich dem Schmerz nicht mehr erlauben wollen, mich zu überfallen, weil ich dann Angst bekomme, dass ich dann nie mehr seinen Klauen entkomme. Es gelingt mir einfach nicht. Der Schakal sitzt immer da. Aggressiv sitzt es da, dieses schreckliche Raubtier, und wartet auf eine unachtsame Sekunde meinerseits. Dann reißt er seinen scheußlichen Rachen auf und beißt sich an mir fest. Dann kriege ich noch viel mehr Angst vorm Durchdrehen, weil ich absolut nicht weiß, was ich tue, wenn ich durchdrehe. Das, wenigstens das, habe ich noch halbwegs im Griff.
Hendrike war heute mit mir in der Kirche, um den Blumenschmuck für Sonntag zu arrangieren und ich fand es schön, ihren Händen zuzusehen, die so sicher und ruhig alles richteten, wie sie manchmal zurücktrat, um kurz darauf ihr Werk ein wenig zu korrigieren. Das hätte ich mir ewig so angucken können. Es sieht so normal aus in meiner extrem unnormalen Situation.
Aber sie machte mir einen Strich durch die ewig-zuschauen-Rechnung: „So und jetzt sprechen wir zu Gott unserem Vater, der die Untröstlichen trösten kann, also auch dich!“ „Das kann ich nicht, ich habe noch nie gebetet!“ „Macht nichts, Gott ist das egal. Wir machen das so: Ich bete und du sprichst mir einfach nach, ok?“ Niemals, dachte ich bockig, mache ich das.
Aber ich hörte mich dann doch die Worte nachsprechen, deren Sinn ich teilweise gar nicht begriff. Keine Träne kam aus meinen Augen, wo ich doch andauernd dachte, dass ich mal heulen sollte, um zur Ruhe zu kommen. Stattdessen heule ich jetzt hier am Strand rum, mitten im eisigen Wind, die Möwen kreischen ihr Lied dazu, so scheint’s.
Mit einem Mal ist mir klar: Ich heule, weil ich dankbar bin! Der Schakal verschwindet ganz plötzlich ins Nichts.
Warum helfen Sie mir so?
Warum helfen Sie mir so? ‚Einfach‘ so, muss ich sagen. Sie kennen mich nicht und ich darf hier sein und Sie spenden dafür. Warum sind Menschen gut? Wenigstens hat Hendrike mir erklärt, warum sie mir hilft: Auch ihr hat Tiqua geholfen damals: Mit einem Kredit konnte sie das Elternhaus umbauen zu Ferienwohnungen, damit sie alleinerziehend ihr Kind großziehen und gleichzeitig arbeiten kann. Das, sagte sie, werde sie nie vergessen und sie habe damals versprochen, es an eine andere Frau zurückzugeben. Und das wäre eben ich. So etwas habe ich noch nie vorher wegen Vergewaltigung gehört. Aber es tut richtig gut, so gut, dass ich heulen muss. Immerhin weiß ich jetzt, warum der Tränenbach einfach so weiter läuft, gegen meinen Willen.
Warum ist ausgerechnet mir das Schreckliche passiert, wo ich doch zu den Guten gehöre? Ich hätte auch gerne jemandem was Gutes getan, das ist aber jetzt nicht mehr möglich. Mein Leben ist dermaßen verschoben worden, dermaßen aus allen Fugen gefallen, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin und wie es weitergehen soll.
Hendrike hat gesagt, ihr sei es damals auch so gegangen: alles sei zu Ende, dachte sie, bis sie den Gedanken hatte, dass sie ihrer Beraterin vertrauen muss, wenn sie je einem Menschen vertrauen wollte, dann müsse sie das jetzt und auf der Stelle beginnen. Das soll ich auch so machen, das würde sie mir dringend raten.
Das will ich nicht, ich weiß ja noch nicht einmal, wie ich die Schwangerschaft durchstehen soll, von der Angst vor der Geburt ganz zu schweigen. Wie wird ES aussehen und wie soll ich ES aushalten? Wie soll ich das Kind gleichzeitig großziehen, weil ich KiTas aus eigener Erfahrung für furchtbare Verwahranstalten halte, und wie soll ich meinen Unterhalt verdienen? Das auch noch für zwei. Wie ich es drehe und wende, es kann nicht gelingen. Entweder kann man ein Kind großziehen oder man geht einer bezahlten Arbeit nach. Beides zusammen schließt sich aus.
Hendrike sagt dazu: „Ja, das wird eine furchtbare Zeit für dich, aber nur bis zur Geburt. Aber du musst jetzt ja nicht schon klären, wie es danach weitergeht. Das sagt zwar der menschliche Verstand, dass du es im voraus klären musst, aber deine Schwangerschaft und alles, was zurückliegt, sagen das genaue Gegenteil!“
„Was sagen sie denn? Ich höre so viele Stimmen in mir drinnen?“
„Sie sagen: du hast etwas Furchtbares mitgemacht, ein furchtbares Verbrechen ist dir passiert. Sie sagen, du hast trotzdem richtig entschieden als du den Abtreibungstermin abgesagt hast. Und das hast du sehr, sehr gut gemacht. Du brauchst jetzt alles an Kraft und Zeit, dich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Das ist genug! Mehr als genug!“
Gewalt bleibt Gewalt
Aber ich habe mich ja nur entschieden, weil es mich so erschüttert hat, als die Beraterin mir die Gewalt erklärte, mit der ich das Kind wegmachen wollte. Am meisten hat mich getroffen, dass sie die Gewalt an mir mit der Gewalt der Abtreibung gleichsetzte. Auf ein und dieselbe Ebene! „Aber man kann doch Gewalt nicht gleich Gewalt ansehen, da muss man doch differenzieren, es gibt doch ganz unterschiedliche gewaltsame Gewalt!?“, habe ich eingeworfen.
„Ja“ und da war es aus mit meinen Gegenargumenten, weil ich spürte, es ist die Wahrheit: „es gibt unterschiedliche Arten von Gewalt, aber Gewalt bleibt Gewalt – und du musst dir die Frage stellen, WER derjenige sein soll, der darüber bestimmt, in welchem Maße die gerade ausgeübte Gewalt schrecklich ist! Machen deiner Meinung nach diese Unterscheidung die Täter oder die Opfer?“
Ich schrie zurück: „Du behauptest also, dass ICH Täterin wäre?!“
„Noch bist du es nicht geworden, aber du hast bereits alles Notwendige dazu in die Wege geleitet. DU entscheidest, auf welcher Seite du stehen wirst, es ist ein gefährliches Leben für Frauen und Kinder, weil sie die deutlich schwächere Hälfte der Menschheit sind. Jeder Mensch kann und muss entscheiden, ob er Täter sein will oder nicht. Bloß, dass es KEINE guten Täter gibt!“
Ich wollte mich wehren und zurückschlagen, aber ich fühlte gleichzeitig, dass es gegen die Wahrheit keinen wirkungsvollen Widerstand gibt. „Wahrheit schmeckt furchtbar bitter!“, hielt ich ihr vor und sie nickte dazu: „Stimmt, es ist die Wahrheit, ja! Aber ob sie bitter schmeckt: das liegt in deiner Hand!“
Hendrike ist so klug und so tüchtig und ich bin feige, müde und untüchtig geworden. Trotzdem möchte ich mich bei Ihnen bedanken und ich möchte, wie Hendrike, versprechen, dass ich danach – ob ich das Kind behalte oder es zur Adoption frei gebe – das Gute auch weitergeben will. Mein Herz und mein Alles tut weh, aber ich merke, dass es heute vor allem Dankbarkeit ist, die wehtut, weil man nichts direkt zurückgeben kann.
Aber ich kann ja weitergeben.
Erst die Geburt, dann die Entscheidung
4 Stunden später, nachdem ich wieder zu Hause bin und mit Hendrike den Frühstückstisch für morgen früh decke: Eventuell frage ich nach der Geburt, ob sie so viele Gäste hat, dass sie eine Partnerin gebrauchen könnte. Kochen macht mir Spaß und wir könnten doch am Abend ein kleines Abendessen dann anbieten? Schreiben mag ich auch gerne, vielleicht schreibe ich meine Lebensgeschichte auf.
Mal sehen, erst die Geburt, dann die Entscheidung, dann frage ich sie.
Wahrscheinlich bin ich viel zu emotional, aber ich sage Ihnen ganz ganz herzlich: DANKE
KOSTEN: 4.707,69 € Fahrtkosten, Unterhaltshilfe, Ablösesumme für Küchenmöbel
‚Aus unserer Beratung‘, Tiqua Freundesbrief Februar 2020